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„Steh auf! Wir sind doch keine Memmen“

U9 pfeift auf die Offiziellen. Bei Fußballspielen der Sieben- und Achtjährigen gibt es keinen Schiedsrichter mehr. Der Verband setzt darauf, dass das die Entwicklung der Kinder fördert. Aber kann das gut gehen? Ein Besuch.

Eigentlich ist es ein gewöhnliches Fußballspiel. Der Ball ist rund, und das Spiel dauert nur deshalb vierzig statt neunzig Minuten, weil die Spieler gerade einmal sieben oder acht Jahre alt sind. Zwei Mannschaften stehen sich an diesem frühen Freitagabend gegenüber, an den Enden des Rasenfelds sind zwei Tore  aufgebaut, und doch ist dieses Spiel keines wie jedes andere – denn es gibt keinen Schiedsrichter, der die Dinge regelt. Es ist ein lauer Sommertag Ende Juni auf dem Sportgelände in Zellingen. Rund 20 Väter und Mütter stehen um das Spielfeld, auf dem ihre Söhne in den Wettkampf treten. In der zweiten Minuten trifft die Gastmannschaft, der FV Hafenlohr/Bergrothenfels, zum 1:0. Sekunden nach dem Anstoß die erste strittige Szene: Einem Spieler springt der Ball im Mittelfeld an den Arm. „Hand!“, ruft einer – doch das Spiel läuft weiter.
Man ertappt sich für einen Moment bei der Frage: Fußball ohne Schiedsrichter? Bei Sieben- und Achtjährigen? Endet das nicht in Anarchie? „Ich finde es gut, dass sich die Jungs untereinander einigen sollen“, sagt Ingo Berktold, der Trainer des FV Bergrothenfels/ Hafenlohr. Notfalls könne er ja einschreiten. Grundsätzlich, meint Berktold, halte er sich aber bewusst zurück. Auch, als sich zwei seiner Schützlinge Mitte der ersten Hälfte streiten, wer einen Einwurf ausführen darf.

„Ich mach!“
„Nein, ich will.“

Seit 2014 gibt es das. Jugendspiele ohne Schiedsrichter. Mit dieser Maßnahme begegnet der Bayerische Fußballverband weniger dem Mangel an Unparteiischen, er will vielmehr die Entwicklung der Kinder fördern. Durchsetzungsvermögen, Selbstständigkeit, Kompromissbereitschaft – all das soll das Spiel vermitteln. Nur: Sind nicht gerade Fahranfänger froh, wenn sich ihre Eltern auf dem Beifahrersitz niederlassen und die Richtung vorgeben? Mutet man Siebenjährigen nicht zu viel zu, indem man sie über Recht und Unrecht urteilen lässt, wenn sie sich kaum einigen können, wer einen Einwurf ausführt? Wenn sie ihrem Banknachbarn in der Schule das Federmäppchen stibitzen, obwohl sie genau wissen, dass sich das nicht gehört?

KEIN REFEREE? ZELLINGENS COACH FINDET DAS GUT. ABER ER SAGT: „ES IST NICHT NUR POSITIV“

Manchmal sei es tatsächlich ein bisschen schwierig, gesteht Ufuk Yurdagül. Zellingens Coach findet: „Es ist nicht nur positiv. Wenn du leistungsorientiert spielen willst, dann ist es ohne Schiedsrichter nicht sehr hilfreich.“ Grundsätzlich sagt aber auch Yurdagül: „Die Idee ist gut.“ Am Spielfeldrand laufen zwei Mütter vorbei. „Fußball ist super“, sagt die eine. Die andere meint: „Ja. Meiner muss sich nur abgewöhnen, so viel zu schubsen.“ Kurz darauf erinnert sich ein Spielervater, der ein paar Minuten zu spät zum Spiel seines Sohnes gekommen ist: „Ach ja, da gibt’s ja keinen Schiri mehr, das ist ja a sowas.“
Im Vorfeld malt man sich die wildesten Dinge aus: wie sich das Spiel in permanenten Diskussionen verliert. Oder vielleicht gar, wie ein Kind dem anderen an den Kragen geht, um ihm klarzumachen, dass es nun Ecke und eben nicht Abstoß gibt. Anarchie auf offener Bühne, auch wenn die Bühne in diesem Fall nur ein Fußballfeld ist, auf dem es gesellschaftlich geduldet ist, dass es etwas rauer zugeht. Auf der Zellinger Bühne gibt es dann aber nur vereinzelt Unstimmigkeiten. Etwa, als der Ball nach einem Zweikampf über die Grundlinie fliegt.

„Ecke!“
„Hä?“
„Das war abgeprallt.“
Dann eben Ecke. Was soll’s?

DAS SPIEL HAT ETWAS SELBSTREINIGENDES – GERADE WEIL EINE ÜBERPARTEILICHE INSTANZ FEHLT
Nebenan läuft ein Trainingsspiel. Eine Mannschaft mit blauen Leibchen gegen eine kunterbunte Mannschaft. Und mit einem Trainer, der als Schiedsrichter auftritt. Welch Ironie. Die Sieben- und Achtjährigen gehören einer Generation an, die mit Navigationssystemen aufwächst und kaum noch
in der Lage ist, eine Landkarte zu lesen. Man könnte meinen, es ende im Chaos, wenn es auch keine Navigationssysteme gäbe. Doch es funktioniert. Obwohl niemand den Weg weist.

Die erste Hälfte endet ohne ein einziges Foul. Das Spiel hat etwas Selbstreinigendes, gerade weil eine überparteiliche Instanz fehlt. Erst in den zweiten zwanzig Minuten tritt ein Kind einem anderen versehentlich ans Schienbein. Alle wissen Bescheid: Foul! Als ein Spieler der Gäste wenig später nach einem Zweikampf auf dem Boden liegen bleibt und auf einen Freistoß pocht, ruft sein Trainer über den Platz: „Steh auf! Wir sind doch keine Memmen.“ Kurz vor Schluss greift Bergrothenfels/Hafenlohr noch einmal an. Eine letzte Chance, das halbe Dutzend voll zu machen. Eine letzte Chance, das 6:2 zu schießen, doch Zellingens Trainer pfeift das Spiel ab – und niemand protestiert. Das ist ja a sowas.

„Es ist sehr gut für die Persönlichkeitsentwicklung“

Wolfgang Schmitt führt die Grundschule in Lohr – und ist ausgebildeter Sportlehrer. Der 58-Jährige hat lange für den VfB Hafenlohr und den TSV Sackenbach Fußball gespielt und weiß aus zwanzigjähriger Erfahrung als Übungsleiter im Schwimmen und Handball, worauf es bei Kindern im Sportkontext  ankommt.

Aktiv: Wolfgang Schmitt, Fußballspiele  von Sieben- und Achtjährigen ohne Schiedsrichter: Ist das aus pädagogischer Sicht sinnvoll?
Schmitt: Das ist eine wertvolle Geschichte. Auch in der Schule setzen wir Schüler als Streitschlichter ein und teilen solche Aufgaben nicht mehr den Lehrern zu. Wenn ein Kind in einer Mannschaft spielt, bekommt es unschätzbare Dinge mit: Teamgedanke, Integration, Fairplay – das ist sehr gut für die Persönlichkeitsentwicklung. Aber ich gebe zu bedenken: Man kann nicht einfach den Schiedsrichter weglassen, man muss die Kinder regelmäßig schulen, was auf dem Fußballplatz erlaubt ist und wie sie sich im Streitfall zu verhalten haben. Sonst sehe ich es eher skeptisch. Wie soll ein Kind entscheiden, wieso es in einer bestimmten Situation Einwurf und nicht Freistoß geben muss?
Aktiv: Welche Rolle spielen die Eltern?
Schmitt: Der Gedanke, dass die Eltern einige Meter Abstand vom Spielfeld halten müssen, ist zu befürworten. Es gibt sicherlich viele vernünftige Mütter und Väter, aber manche kritisieren offen
die Schiedsrichterentscheidungen – und das ist nicht besser, wenn es gar keinen Schiedsrichter gibt.
Aktiv: Welche Erfahrungen machen Sie mit Sieben- und Achtjährigen an Ihrer Schule?
Schmitt: Wir haben einen Bolzplatz, können aus Personalgründen aber keinen Lehrer zur Aufsicht abstellen. Leider gibt es deshalb immer wieder Probleme, wir müssen nachjustieren – und manchmal
auch den Platz für eine Woche sperren.

Verbandsfunktionär Marco Göbet  über Jugendspiele ohne Schiedsrichter – und eine Gefahr, die man bewusst in Kauf nimmt.

„Wir wollen eine Bolzplatz-Atmosphäre schaffen“

Marco Göbet engagiert sich als Kreisspielleiter beim Bayerischen Fußballverband. Als Funktionär trägt er die Entscheidung mit, bei Partien der U9-Junioren keinen Schiedsrichter einzusetzen. Im Interview spricht der 43-Jährige aus Rimpar über die Hintergründe dieser Idee – und eine Gefahr, die der Verband sehenden Auges in Kauf nimmt.

Aktiv: Marco Göbet, wie viele U9-Spiele haben Sie in der zurückliegenden Saison gesehen?
Göbet: Zwei. Jeweils in Rimpar.
Aktiv: Wie ging es da zu?
Göbet: Es hat geklappt – auch ohne Schiedsrichter. Wobei man dazu sagen muss: Beide Spiele waren eine klare Sache. Rimpar hat relativ schnell relativ deutlich geführt. Die Spiele waren unspektakulär Ich weiß nicht, was passiert, wenn es Spitz auf Knopf steht.
Aktiv: Welche Rückmeldungen haben Sie von den Klubs bekommen?
Göbet: Die Vereine haben sich mit dem System arrangiert. Und man muss sagen: Es funktioniert mit seiner Eigenheit. Aber es dürfte auch klar sein, dass es nicht immer so abläuft, wie man sich das in der Theorie vorstellt.
Aktiv: Inwiefern?
Göbet: Von den beiden Spielen, die ich gesehen habe, kann ich sagen, dass das mit der Sicherheitszone nicht funktioniert hat. Die Eltern sind nicht 15 Meter vom Spielfeld weggeblieben, haben aber nur ihre Kinder angefeuert.
Aktiv: Was steckt eigentlich hinter der Idee des Verbands, Jugendspiele ohne Schiedsrichter auszutragen?
Göbet: Es geht weniger darum, dass wir immer weniger Schiedsrichter haben und eine Lösung für dieses Problem finden müssen, wir wollen vielmehr die Entwicklung der Kinder fördern und eine Bolzplatz-Atmosphäre schaffen.
Aktiv: Auch auf die Gefahr hin, dass es drunter und drüber geht?
Göbet: Ja. Diese Gefahr besteht ja auch, wenn es einen Schiedsrichter gibt.
Aktiv: Survival of the fittest wie auf dem Bolzplatz: Das soll also gelten?
Göbet: Man kann nicht sagen, dass das Recht des Stärkeren gilt, aber wir wollen die Kinder zur Selbstverantwortung erziehen. Sie sollen die Dinge auf dem Platz selbst regeln. Und wenn es mal nicht klappt, gibt es noch die beiden Trainer, die Entscheidungen treffen können.

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